TRISSA
HEXE VON EICHSTÄTT
Der Bestseller in einem Band!
Die authentische Geschichte der Therese Driesner - einer starke Frau
im Überlebenskampf gegen Hexenwahn, Hass und Krieg.
Aber auch im Kampf um die Liebe ihres Lebens.
Leseprobe vom Anfang der Geschichte
Es ist das Jahr 1641. Therese wendet sich zuerst nach Ingolstadt, da Eichstätt bei ihrer Rückkehr total zerstört war.
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Ingolstadt 1641
Alles begann mit einem Schuss.
Begleitet vom Klirren unzähliger Scherben durchschlug die Kugel eines der Kirchenfenster und hätte um ein Haar Pater Gregor an seinem Altar festgenagelt. Erschreckt bis in die Haarspitzen fuhr er herum, suchte und blickte unversehens durch einen Ring aus Glasscherben in den Himmel. Zornig, mit hochrotem Kopf, löste er sich von seinem Altar, eilte zwischen den Kniebänken hindurch zur Kirchentür, stieß den schweren Türflügel nach außen – und geriet augenblicklich in den Sog der Ereignisse, die ihm und anderen zum Verhängnis werden sollten.
Ihren Anfang nahmen diese Ereignisse auf einem Misthaufen auf der anderen Straßenseite. Dort umringten fünf Landsknechte lärmend den etwa brusthohen Misthaufen vor dem Hause des Bäckers. Oben, auf der breiten, von Dung und Dauerregen aufgeweichten Oberfläche, ihr Opfer. Vom Kopf bis zum Bauch gefangen in einem Mehlsack, kniete der Ärmste weit vornüber gebeugt auf dem Haufen. Versuchte unter Aufbietung aller Kräfte, sich irgendwie aufzurichten und landete doch nach jedem Versuch mit dem Kopf voran im Mist.
Die Kerle vor der stinkenden Bühne, allesamt in schäbigen, zusammengesuchten Uniformen, quittierten jeden dieser Misserfolge mit lautem Gejohle, tapsten und torkelten krakeelend im knöcheltiefen Straßenkot.
Aufgebracht reckte Pater Gregor den Kopf vor, sah an den Häusern entlang die Straße hinauf. Er war nicht der einzige, den es herausgetrieben hatte. Rechts, nur drei Häuser weiter, bei der Böttcherwerkstatt vom Zollner, da standen sie schon, steckten auf beiden Seiten der Straße die Köpfe zusammen, standen mit verschränkten Armen einfach nur so da. Und über ihre Köpfe hinweg schauend sah er den Zirngiebl, den Weinhändler, heraneilen. Zu klein, um genug zu sehen, zu feig, näher zu kommen, stemmte er sich mit einem Fuß schwer und steif auf den dicken Stein, der als Stütze an der Hauswand des Böttchers lag. Hielt sich am Balkenzapfen fest und machte einen langen Hals.
Sein Blick hetzte zurück zum grölenden Mob und dessen Opfer. Max Vogel, der Bäcker, musste das sein. Ein Seilende, fest um die Hüfte gezurrt, zwang Arme und Mehlsack an seinen Körper, lieferte ihn hilflos seinem Peiniger aus. Und der stand breitbeinig dicht hinter ihm und schwang das andere Ende des Seiles. Hager, das Gesicht von dichtem, schwarzen Bart und einer wilden Mähne fast zugewachsen, schlug er unentwegt zu, ließ das Seilende wieder und wieder auf das nackte Hinterteil des vor ihm Knienden niedersausen.
„Du sollst tanzen, verdammt noch mal. Tanzen. Los, los, los“, brüllte er mit heiserer Stimme, wobei die anderen Kanaillen zwischen Glucksen und Lachen in kindischer Weise skandierten: „Tanzen – tanzen – tanzen – tanzen...“
Verzweifelt und von Todesangst getrieben kämpfte der Geschundene gegen sich selbst. Rang verzweifelt, blind, die Hände an den Körper gebunden, um Gleichgewicht und knickte doch immer wieder ein. Und nach jedem Einknicken wurde das „Tanzen – tanzen – tanzen“, von höhnischem Gelächter begleitet, lauter und lauter. Endlich: Heftig hin und her schwankend stand er auf seiner buckligen und schlüpfrigen Bühne.
„Los jetzt, dreh dich. He-he.“ Als wollte er ihn anfeuern, brüllte der Hagere von Neuem auf den Taumelnden ein, schlug ihm dabei das Seilende in rascher Folge gegen die Beine. Orientierungslos drehte sich der Arme vorsichtig mit ein – zwei – drei – vier Schritten, stolperte über das wuchtig geschlagene Seil und schlug unbeholfen der Länge nach auf den Mist. Das war es, was die Meute sehen wollte. Johlend torkelten sie mit hochrotem Kopf herum, verbogen sich vor Lachen, schlugen sich gegenseitig auf die Schulter und merkten nicht, dass ihnen dabei das eine und andere der gestohlenen Brote aus dem Arm rutschte und in den aufgeweichten Straßenkot entglitt.
Den Pater hielt es nicht mehr vor seiner Kirchentür. Er war in seinem fünfundvierzigsten Jahr und hatte genug dieser boshaften Spiele gesehen; selten verlor das Opfer weniger als sein Leben.
Zornig und mit einer Gewandtheit, die ihm kaum jemand zugetraut hätte, der seine Vergangenheit nicht kannte, trieb es ihn voran. Das sonst so ruhige und besonnene Gesicht war rot angelaufen, zeigte den Ausdruck wütender Entschlossenheit, während er durch den Morast zur anderen Straßenseite stürmte.
Wie ein Donnergott aus dem Nichts kam er über den Hageren, riss ihn herum, bekam ihn mit seiner Linken am Brustkleid zu fassen und schüttelte ihn mit unbändiger Kraft hin und her: „Ihr Lumpenpack und Mordgesindel. Macht, dass ihr fortkommt. Verschwindet aus der Stadt und lasst die in Frieden, die Euch Banausen mit ihrer Arbeit noch ernähren müssen.“
Völlig überrascht, schlagartig schweigend, schauten die Gesellen des Gebeutelten kuhäugig zu, verharrten lächerlicherweise in der Haltung, die sie gerade innehatten. Der Hagere fasste sich sofort wieder, wand sich im festen Griff, riss dann die Hand mit der ungeladenen Waffe hoch.
Angewidert schleuderte ihn der Pater mit einem machtvollen „Schert Euch weg.“ in Richtung der Kumpane, die den rückwärts Strauchelnden auffingen und den Pater immer noch fassungslos anstierten.
Aus den Augenwinkeln gewahrte er, dass sich jetzt einige der Zuschauer endlich in Bewegung setzten und ihm zu Hilfe kamen. Vor ihm löste sich einer der Halunken von der Hauswand auf der anderen Seite des Misthaufens. Wütend, die Augen weit aufgerissen, Kiefer und Unterlippe bullig vorgeschoben, stakste er schnaubend auf ihn los. Fast hatte ihn der Kerl erreicht, hob schon griffbereit die Arme, da fasste er sich jäh mit beiden Händen an den Kopf und taumelte gegen den Misthaufen: Ein Stein, groß wie ein Hühnerei, hatte seinen Kopf getroffen, schlug ihm den riesigen, verbeulten Hut herunter, ließ Blut unter seinen Händen hervorquellen und auf die Erde tropfen.
Augenblicklich kam Leben in die Bagage: Eilig sammelte einer die Brote wieder auf, die um den Misthaufen herum auf den Boden gefallen waren, die anderen wandten sich ab, um den Ort des Geschehens zu verlassen, zogen den Gesteinigten einfach mit.
Der Hagere hatte seine Niederlage noch nicht verdaut, stand noch einen Augenblick, schätzte die Entfernung zu den Näherkommenden ab. Er legte den Kopf schräg, beugte sich leicht nach vorn und blitzte den Pater durch das wilde Haargewirr von unten herauf an. „Wir kommen wieder, Paterchen,“ die Mündung seiner Waffe zeigte jetzt drohend auf den Bauch des Paters, „und dann hoffe nur, dass der liebe Gott rasch ein Einsehen mit dir hat.“
Hoch aufgerichtet, das kräftige Kinn etwas vorgeschoben, schaute ihn Pater Gregor funkelnd an. Der andere wandte sich ab, warf den Näherkommenden einen verächtlichen Blick zu und stapfte endlich den vorausgegangenen Kumpanen hinterher.
Vor dem Misthaufen der Bäcker. Orientierungslos war er zwischenzeitlich von seiner „Bühne“ herunter gerollt und kniete nun absolut hilflos und in wildem Weinkrampf zuckend davor. Pater Gregor griff ihm rechts und links an die Oberarme und versuchte ihn aufzurichten, bekam unerwartet Hilfe. Er erkannte den dicken Zirngibl, den es jetzt ganz nah heran getrieben hatte, und den alten Kostner, den Nachbarn des Bäckers, beides fromme Kirchgänger.
„Erst den Strick.“ Der Zirngibl nestelte aufgeregt an der Schlinge, die Mehlsack und Arme an den Körper fesselte, während der Kostner sich einen der oberen Zipfel des Mehlsacks gegriffen hatte, unnötigerweise. Endlich löste sich die Schlinge und der Strick rutschte herunter auf den Boden. Rasch zogen sie den Sack nach oben weg und erkannten den Menschen nicht, der nach und nach zum Vorschein kam. Hinter dem Gepeinigten stehend, schaute der Pater auf einen vollen Haarschopf: Das war nicht der Bäcker. Der Bäcker war nur noch im Besitz eines schmalen Haarkranzes um seinen ansonsten kahlen Schädel. Der Kostner, immer noch den besudelten Sack in den Händen, beugte sich vor, schaute dem Ärmsten – nach Bekanntem, Vertrautem suchend – von unten her ins Gesicht.
„Das ist der Pocher aus Eichstädt.“ Eine der Frauen, die von der anderen Seite des Misthaufens aus zusahen, wies erstaunt mit dem Finger auf den gerade Befreiten.
Mist und Kot, die dem Gepeinigten anhafteten, hatten den Zirngibl und den Kostner nicht sonderlich geschreckt, nun aber traten sie rasch einen Schritt zurück, zogen Arme und Hände gespreizt an den Körper, so als fürchteten sie jetzt, sich zu beschmutzen. Der Pater, den Ärmsten immer noch an den Armen festhaltend, trat überrascht einen Schritt zur Seite, musterte das Profil. Das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit aufgequollen. Schweiß, Tränen und Speichel hatten sich mit dem Mehl vermischt, welches Kopf und Oberkörper in einer dicken Schicht bedeckte, hatten Spuren hinein gespült, eine grausige Maske entstehen lassen. Dennoch: Der Pater erkannte jetzt, wen er vor sich hatte, wen er soeben aus den Händen der Meute gerettet hatte: den Pocher, den Peinmann und Scharfrichter aus Eichstätt. Unter jeder Maske würde er ihn erkennen, zu tief hatte sich dieser Mann in sein Gedächtnis eingebrannt. Er nahm die Hände herunter, entfernte sich langsam einige Schritte in Richtung der Bäckerei. Betrachtete den, den er als Ungeheuer erlebt und der so vielen schon Höllenqualen auf Erden bereitet hatte. Halbnackt stand der nun mit hängenden Armen da, tief verletzt, wehrlos den Blicken fremder Menschen ausgesetzt, die jetzt ganz nah herangekommen waren und ihn begafften.
Pater Gregor wandte sich ab, empfand, während er die Tür zur Backstube öffnete, ganz bewusst und im Gegensatz zu den Grundsätzen seines Glaubens, sehr menschlich: Für den Pocher hatte er kein Mitleid, er hatte heute schon zu viel für ihn getan.
Im Dämmerlicht des Hauses, vor der steilen Treppe, die ins Obergeschoss führte, stand die Frau des Bäckers, zitterte am ganzen Körper und starrte zur Eingangstür, ihm entgegen. „Beruhigt Euch, es ist vorbei.“ Er legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.
„Pater. Euch schickt der Himmel.“ In der Tür zur Backstube glänzte der kahle Schädel des Bäckers.
„Wer sonst, mein Lieber? Ihr seid obenauf? Das ist gut so.“ Er beugte sich etwas vor, machte einen langen Hals und schaute in die tüchtig verwüstete Backstube. „Ah. Das tut ja weh.“ Umgeworfene Tische, Scherben irdener Gefäße und allerlei Handwerksgeräte lagen über- und untereinander, zeugten von der sinnlosen, unbändigen Zerstörungslust, mit der sich die Strolche hier ausgetobt hatten. Der essigsaure Geruch des vor dem Ofen ausgeleerten schmierig-klebrigen Sauerteigs hing stechend im Raum.
„Tja, Pater. So sieht das aus, wenn der Satan Brot einkauft.“
„Spottet nicht. Das hätte schlimmer für Euch ausgehen können.“
„Mir reicht´s. Schaut ´s Euch doch an.“ Er wandte sich zur Seite und wies mit einer ausholenden Bewegung auf das Chaos. „Gott sei Dank haben die Lumpen den Kerl in meiner Mehlkammer entdeckt. Wahrscheinlich hätte sonst ich auf dem Misthaufen getanzt.“
„Wusstet Ihr, dass der in eurer Mehlkammer war?“
„Woher denn? Die haben den entdeckt, als sie das Stöbern anfingen. Plötzlich zogen sie den Kerl aus der Kammer.“
„Immerhin war das der Scharfrichter von Eichstätt. Normalerweise verkriecht der sich nicht.“
„Der Pocher von Eichstätt?“ Im Gesicht des Bäckers spiegelten sich Erstaunen und Ratlosigkeit. „Der Pocher. Meint ihr, ich müsste mir Gedanken darüber machen?“
„Sicher nicht. Ihr nicht.“ Der Pater zog in Gedanken sein Gesicht etwas zusammen, die Stirne kraus. „Aber er wird für sein Versteckspiel einen Grund gehabt haben.“
„Na ja. Die Halunken jedenfalls haben ihn sicher erkannt. Die haben ihn schon hier im Haus ganz schön zugerichtet.“
Die Wärme der Backstube, der muffig-säuerliche Geruch und die Gewissheit, dass sich der Pocher in seiner Nähe aufhielt, machten dem Pater zu schaffen. Er musste zurück an die Luft. Vor dem Haus wandte er sich wieder seiner Kirche zu, schroff, abweisend gegenüber den Wartenden. War froh, dass er den Pocher nicht mehr sah.
Wenige Schritte trennten ihn noch von der weit geöffneten Kirchentür, als eine Bewegung am Haus des Bäckers den Lauf seiner Gedanken unterbrach: Im selben Hauseingang, aus dem er gerade heraus auf die Straße getreten war, stand jetzt merkwürdigerweise eine Frau. Merkwürdig, weil es nicht die Frau des Bäckers war, aber nur diese war ihm zitternd im Hause begegnet. Er wandte Schultern und Kopf noch etwas weiter herum, um genauer hinsehen zu können. Aber alles, was er von ihr sah, waren ihre Körpergröße, die es ihr ermöglichte, dort aufrecht im Gang zu stehen, wo er den Kopf unbedingt einziehen musste, und ihr Mantel. Ein solcher Mantel aus samtig aufgerautem, weich fallendem, grünem Stoff wäre jeder gewöhnlichen Frau verwehrt und für diese auch unerschwinglich. Mäntel dieser Art setzten Vermögen voraus. Eine Wohlhabende im einfachen Hause des Bäckers.
Unversehens wurde ihm bewusst, dass er immer noch auf der Straße stand, sichtbar für alle. Hastig machte er die letzten Schritte bis zur Kirchentür und wandte sich dann wieder um. Diese Frau kannte er nicht. Das auffallend helle, leicht krause Haar, welches so voll nach hinten in den Nacken fiel, es wäre ihm aufgefallen. Hierzulande hatten die Frauen dunkle Haare.
Und ohne es zu merken, kniff er seine Augen zu schmalen Sehschlitzen zusammen, nahm jedes Detail interessiert auf. Beobachtete, wie sie heraus auf die Straße trat und einen Augenblick vor dem Haus stehen blieb, kurz nur, um ebenfalls nach oben zu schauen. Ihr volles Haar staute sich dabei in dem aufgestellten Mantelkragen, ein schlanker Hals wurde sichtbar und Pater Gregor schaute in ein zwar etwas eckiges, aber vielleicht gerade dadurch reizvolles Gesicht.
Plötzlich war da etwas. Etwas irritierte ihn, flog ihn nur kurz an, aber irritierte ihn nachhaltig.
Als sich ihre Blicke unversehens begegneten, lächelten sie beide – nur einen kurzen Augenblick, grad lang genug, um sich der gemeinsamen Empfindung zu versichern. Ein freundliches Neigen des Kopfes und mit ruhigem, sicherem Schritt entfernte sich die Unbekannte, ohne den armen Zirngibl und all die anderen, die ihr jetzt so interessiert nachschauten, auch nur wahrzunehmen.
Auch Pater Gregor schaute noch einen kurzen Augenblick hinter ihr her. Nicht, weil sie als Frau etwas in ihm zum Klingen gebracht hätte. Diese Saiten waren sämtlich in ihm verstummt, so glaubte er. Nein, irgendwie fühlte er etwas, von dem er nicht wusste, was es war, aber es begann, sich in seinem Innersten auszubreiten. Irgendetwas irritierte ihn an dieser Frau, die jetzt das Haus des Schmieds erreicht hatte, wo ebenfalls noch einige der Zuschauer des morgendlichen Spektakels standen und die Fremde unverhohlen musterten.
Sie war eine Bürgerin, ohne Zweifel, eine Wohlhabende. Ganz sicher hatte sie noch keine Hühner gefüttert oder Ziegen gemolken, wie es die Aufgabe der Bäckerin war. Aber sie war keinesfalls aus dieser Gegend. Bis hinunter zum Kind kannte er jeden Hiesigen.
Er ließ die Arme sinken: Er würde es schon noch erfahren, wer diese Frau war. Nur wenig blieb in diesem Ort verborgen. Endgültig wandte er sich wieder der Kirchentür zu.
Begleitet vom Widerhall seiner Schritte ging er zielstrebig bis in den vorderen Teil der Kirche, wandte sich dort einem kleinen Seitenaltar in einer Nische zu. Es war der Seitenaltar mit dem verehrten Marienbild der Kirche, vor dem sich Pater Gregor nun lang ausgestreckt auf den kalten Steinfußboden niederlegte.
Für eine kurze Zeit nur Menschenkind, war er so dem Himmel ganz nah, betete demütig in tiefer Frömmigkeit vor diesem Bildnis der Gottesmutter.
Die dicken Klostermauern wussten noch nichts von der neuen Wetterlage. Wie schon seit Wochen gaben sie die gespeicherte Kälte und die Feuchtigkeit unverändert in den Innenraum der Kirche ab. Dennoch: Pater Gregor hatte seinen ganz persönlichen Grund, auch unter widrigsten Verhältnissen vor diesem Marienaltar niederzusinken. Ohne die Hilfe der Gottesmutter, die er in seiner höchsten Not angerufen hatte, wäre er dem Henker, dem Pocher, nicht entronnen. Davon war er heute mehr denn je überzeugt.
Nach einer ganzen Weile fand er in die Wirklichkeit zurück. Die Kälte hatte ihn steif werden lassen, und er erhob sich ein wenig schwerfällig. Noch einmal schlug er das Zeichen des Kreuzes an seine Brust, wollte sich gerade abwenden, als er den flackernden Widerschein einer brennenden Kerze auf dem Mauervorsprung bemerkte. Der Docht war weit in das Innere der Kerze hinein gebrannt und zwang nun die Flamme, in wildem Lufthunger zu tanzen. Dies war es, was seine Aufmerksamkeit zunächst auf sich lenkte, diese unruhige Bewegung, die sich an Wand und Decke widerspiegelte und die er nur in den Augenwinkeln wahrgenommen hatte. Noch niemals hatte an dieser Stelle eine Kerze geleuchtet, wenn er zur Gottesmutter betete. Immer waren die Kerzen, die am Vortag von den Betenden und Bittenden hier angezündet worden waren, am nächsten Morgen längst verloschen. Diese nicht. Diese war für eine Opferkerze ungewöhnlich dick und von vornherein dazu bestimmt gewesen, länger zu leuchten. Aber da war noch etwas: Etwa daumenbreit über ihrem Boden war ein Kruzifix in das Wachs der Kerze hineingedrückt worden. Ihm zugewandt stand es auffallend groß im flackernden Licht, sprach ihn geradezu an, wollte von ihm wahrgenommen werden.
Und so beugte er sich leicht in den Schultern vor, um das Gesamtbild etwas genauer erfassen zu können. Das Kruzifix. Heiß durchglühte es ihn vom Scheitel bis zur Sohle. Mit zwei hastigen Schritten erreichte er den Mauervorsprung: Dieses etwa handtellergroße Kruzifix, welches sich vor dem Licht aus dem Innern der Kerze so überdeutlich abhob, war ihm nur zu bekannt. Auch wenn es schon bald 14 Jahre zurücklag, dass er es in der Hand hatte; unter hunderten hätte er es herausgefunden. Ein echtes Schächerkreuz in klein, mit seinem Kern aus gewachsenem, unbehandeltem Eichenholz. Er kannte es nur zu genau und bedeutungsschwer zog es ihn förmlich an, nahm ihm die Fähigkeit zur eigenen Entscheidung.
Er streckte die Hand aus, hob die Kerze vorsichtig herunter. Unverhofft genährt leuchtete die Flamme noch einmal auf, um dann jedoch im zurückfließenden Wachs zu ersticken. Er hielt den nun unbeleuchteten Kerzenstumpen ziemlich dicht vor seine Augen, um das Kruzifix ganz genau betrachten zu können. Eingelassen in einen feinen Silberrahmen war es inzwischen blank gewetzt und von vielen kleinen Rissen durchzogen. Dieses Kruzifix gab es nur einmal.
Das noch flüssige Wachs lief ihm über den Handrücken der linken Hand, er nahm es nicht zur Kenntnis. Schwer atmend stand er da, die Schultern etwas nach oben gezogen, während er die rechte Hand, den natürlichen Reaktionen des Schreckens folgend, merkwürdig verkrampft vor den Mund presste. „Stettin.“ Es war das Kruzifix, welches Johannes aus der brennenden Klosterkirche in der Nähe von Stettin retten konnte. Unaufhaltsam stiegen die Ereignisse aus den Tiefen seiner Seele herauf, wiederholte sich das Geschehene klar und deutlich vor seinem geistigen Auge: ...
Eichstätt 1627
Stadtansicht mit Altmühl und Willibaldsburg von Matthäus Merian.
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Die Roman-Geschichte der Therese beginnt im Jahr 1628/29. Die Jahre 1627 bis 1629 gehörten zu den Hoch-Zeiten des Hexenwahns in Eichstätt.
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Während dieser Hoch-Zeit des Hexenwahns wurden in Eichstätt etwa 250 Menschen wegen Hexerei angeklagt. 224 Menschen wurden nachweislich verurteilt und hingerichtet.
Therese
war das einzige Opfer,
das entkommen konnte und
am Leben blieb.
Ingolstadt um 1632
"Schwedenangriff" 1632